Ein Churer Jugendfreund brachte mir 1967 aus Amerika das chinesische Orakelbuch „I GING“, das Buch der Wandlungen.
Es ist auf 64 Ideogrammen aufgebaut, die alle im archaischen Raumkonzept Himmel, Mensch und Erde stehen, begleitet von Grundelementen wie Feuer, Wasser und Luft. Mit diesem übernommenen ideographischen Bildraum kam ich im Dezember 1970 nach Amsterdam.
Im dortigen Chinesenviertel fand ich viel neues Arbeitsmaterial. Im Tropenmuseum waren auch chinesische und japanische Malereien ausgestellt, viele Schriftbilder und Kaligraphien, die mich sehr anzogen.
All diese Studien sind in den „AMSTERDAMER TAGEBÜCHERN“(1972-75) gesammelt.
Im Winter 1971/72 besuchte der Galerist Michael Werner meinen Freund Johannes Gachnang in der Galerie des Goetheinstitut-Provisoriums von Amsterdam, wo ich als Assistent von Gachnang tätig war.
Er brachte uns einen Koffer voller Arbeiten von A.R. Penck, direkt aus der DDR, für die erste Ausstellung des Künstlers in Amsterdam.
Darin befanden sich etwa 30 Bücher und einige zusammengefaltete Bilder.
Während dem Aufbau und dem Hüten der Ausstellung hatte ich viel Zeit, das ganze Material einzusehen.
Der Katalog des Museums Haus Lange, Krefeld, „ZEICHEN ALS VERSTÄNDIGUNG“ A.R. Penck, Dresden 1971, mit seinen „STAND-ARTS“, begleitete diese denkwürdige Ausstellung.
Zufällig fand ich damals auf einem Flohmarkt von Amsterdam das Buch „DIE GESCHICHTE DER SCHRIFT“ von Karl Faulmann, Leipzig 1880. Seine Ausführungen über den Zusammenhang von Zahl und Schrift und der Erklärung, warum Zahlen sowohl qualitative, als auch quantitative Bedeutungsfelder haben können, fesselten mich damals.
Die Entwicklung einer persönlichen Kodierung der Sequenz von neun Ideogrammen, mit denen ich nicht nur die Zehnerserien, sondern auch später und bis heute alle Werke geschaffen habe, gehen auf die Lektüre dieses Buches zurück.
Während den drei Jahren, in denen ich mit Johannes Gachnang in Amsterdam lebte und arbeitete, hatte ich Gelegenheit, seine Arbeitsweise, sein Werk und sein Denken kennenlernen zu können.
Noch heute empfinde ich grosse Dankbarkeit und Bewunderung gegenüber dem Künstler und Künstlerfreund Gachnang.
Diese vier Ausgangspunkte motivierten mich zu meinem Projekt der ersten zwei „ZEHNERSERIEN“ (1972/73).
Schon während der Ausstellung von A.R.Penck erschien mir der Begriff „ZEICHEN“ als ziemlich irreführend.
„ZEICHEN“ können alle möglichen linearen Kritzel bewusster und unbewusster Gestik sein, unorganisierte und organisierte Fragmente der inneren Vorstellungswelt. Zeichen, die im archaischen Raumbegriff Himmel-Mensch- Erde organisiert sind, werden „IDEOGRAMME“ genannt.
Sie beziehen ihre Bedeutungsfelder aus der Relation zum Raumbegriff.
Da ihr prähistorischer Code verloren gegangen ist, sind solche Konstruktionen nicht kodierte „IDEOGRAMME“, die auch als poetisch-malerische Bedeutungsfelder kodiert werden können.
Wenn ein organisiertes und kodiertes „ZEICHEN“ im kollektiven Bewusstsein ein ideologisches Bedeutungsfeld erhält und so zum „SYMBOL“ wird, dann werden Ideogramme wie z.B. das Hakenkreuz oder der Davidstern ideologisiert, obwohl beide ein anderes archaisches Bedeutungsfeld haben.
Die Swastika enthält eine Vortexform und der Davidstern bezieht sich auf das Hexagramm, beides geometrische Ideogramme, wie es davon noch viele gibt. „SYMBOLE“ tilgen das archaische Bedeutungsfeld und besetzen es für ideologische Zwecke. „SYMBOLE“ tragen ideologische Botschaften.
Die „ERSTE ZEHNERSERIE“ war mein erster Ansatz zur systematischen Erforschung der Zusammenhänge von ideographischem Raum und Ideogramm. Die Sequenz der neun Ideogramme überlagert und verstrickt sich, organisiert in je 1000 Variationen.
Das archaische qualitative Neunersystem wird über die Nutzung eines zehnten Ideogramms in das dezimale quantitative Zehnersystem integriert.
In der „ZWEITEN ZEHNERSERIE“ erweitern sich die Kombinationen auf 100 000 Variationen.
In der Fülle dieser 100 000 Ideogrammkonstruktionen sind alle einzeln mit dem Neunercode lesbar und auf den je 10 Leinwänden auch lokalisierbar.
Es ist das Archiv der archaischen Archetypen, bewusste und unbewusste Strukturen meiner Bildvorstellungswelt.
Alle diese 100 000 Ideogramme sind ideologisch unberührt und haben mit Symbolen nichts zu tun.
Dieses Archiv der Ideogramme ist in mir noch heute abrufbar. Beide Zehnerserien enthalten den Neunercode meiner bildnerischen Vorstellungswelt, in denen sich meine Werke auch heute noch bewegen.
Das Konzept des Werkes ist nur über die Ausstellung aller zehn Papierbahnen ablesbar.
Beim Ausstellen eines Teils der Serie sollte das Konzept dieser Forschung mit dem ausgestellten Ausschnitt verbal vermittelt werden.